Historie
Bericht über die Vereinsarbeit und eingeleitete Veränderungen in der Einrichtung für Frauen mit Behinderung in Malko Scharkovo
Von 2000 bis 2005 lagen die Schwerpunkte der Vereinsarbeit zunächst auf einer grundsätzlichen Verbesserung der Lebensverhältnisse der Frauen in der Behinderteneinrichtung in Malko Scharkovo. Ein Beispiel für die bauliche Situation waren fehlende Fenster im einzigen Aufenthaltsraum. Ein korrupter Heimleiter hatte diese ausbauen lassen, um sie in seinem Kuhstall zu installieren.
Eine Grundlage für eine Verbesserung konnte durch bauliche Maßnahmen, wie die Beschaffung von Möbeln und die Renovierung in und um die Wohngruppe, geschaffen werden. Zudem war es besonders wichtig, eine Tagesstruktur für die Frauen in Malko Scharkovo zu etablieren, die ansonsten den ganzen Tag sich selbst überlassen waren. Durch verschiedene Arten von inklusiver Beschäftigung und intensiven fachlichen Beratung des Personals wurden hierfür Voraussetzungen geschaffen, auf die in den nächsten Jahren aufgebaut werden konnte. Die bulgarische Projektleiterin und Dolmetscherin Frau Bubalova unterstützte und begleitete die Projekte von Beginn an. Maßgeblich waren die LVR-Mitarbeiterinnen Frau Kirchhofs-Leuker und Frau Nottelmann für die gesamte pädagogische Beratung und Entwicklung verantwortlich. In Zusammenarbeit mit dem Lazarus-Hilfswerk sowie dem Malteser Hilfsdienst wurden mehrere Hilfstransporte mit Sachspenden nach Malko Schakovo gesandt.
Ab 2006 wurde die Selbstständigkeit und Mobilität der Frauen durch die Überführung von zwei Kleinbussen verbessert. Insgesamt wurden sieben Kleinbusse gestellt, teilweise auch für entsprechende Einrichtungen in den Nachbargemeinden. Eine Dezentralisierung wurde durch den Umbau eines Hauses für eine Außenwohngruppe eingeleitet. Diese befindet sich in Boljarovo, einer Kleinstadt ca.10 Kilometer weit von der Haupteinrichtung in Malko Scharkovo entfernt. Obwohl ein führender Sozialpolitiker in Bulgarien ein paar Jahre zuvor noch behauptet hatte, dass es den Bulgar*innen nicht zuzumuten sei, Menschen mit Behinderungen mitten in der bulgarischen Gesellschaft mitten unter sich leben zu lassen, wurde dies plötzlich möglich. Acht Frauen leben nunmehr in der Außenwohngruppe mit ihren Betreuerinnen und führen ein fast normales Leben. Sie schreiben, zeichnen, kümmern sich um den Garten und machen Ausflüge in die Umgebung.
Der Schwerpunkt der Vereinsaktivitäten wurde nach Linderung der größten Not, zunehmend auf die Fortbildung der Mitarbeiterinnen gelegt, unter anderem durch den Aufbau eines Teams von Ergotherapeutinnen. Die Ergotherapie von Malko Scharkovo wurde mit Materialien bestückt und die Mitarbeiterinnen erhielten mehrere Fortbildungen zu kreativen und animierenden Methoden, mit dem Ziel, erlebnis- statt ergebnisorientiert zu arbeiten und Zielsetzungen für die nächste persönliche Entwicklungsstufe der betreuten Frauen zu erarbeiten (Frau Thomè, 2006/07).
Des Weiteren wurden Team-Building-Maßnahmen ergriffen und die Mitarbeiterinnen wurden im Bereich des pädagogischen Arbeitens und der Arbeitsorganisation geschult (Frau Hegger, 2005-2010). Da Mitarbeiterinnen meist aus den umliegenden Dörfern kamen und über keinerlei Ausbildung oder Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen verfügen, waren diese sehr dankbar für das Schulungsangebot.
Ein besonderes Event stand am 21.09.2015 an. Das 15-jährige Jubiläum des Hilfsprojektes wurde ausgiebig mit Aufführungen, Gedichten, Reden und viel Freude in Malko Scharkovo gefeiert.
Nachdem aus den heruntergekommenen Liegenschaften eine vorzeigbare Einrichtung für die Frauen geschaffen worden war und auch die pädagogischen Maßnahmen angenommen wurden, wandte sich der Vorsitzende Herr Heidrich an das Berufskolleg des LVR, konkret an Herrn Heimbürger (Diplom-Psychologe und damaliger Dozent), um diese Schulungsmaßnahmen auszuweiten. Mit großem Engagement unternahm dieser seit 2015 weitere Fortbildungsmaßnahmen. Er konzentrierte sich auf die Vermittlung der videobetreuten und –begleiteten pädagogischen Arbeit und stellte die Methode des Videocoachings und die Ausbildung zum Video-Practitioner, Video-Guide und Video-Coach den Mitarbeiterinnen in Bulgarien vor. Das Angebot stieß auf Interesse in Malko Scharkovo wie auch in einer Eltern-Initiative namens EGIDA in Pazardzhik, mit der es schon sowohl früher projektbezogene Kooperationen gegeben hatte. Zunächst wurden die technischen Voraussetzungen zur Umsetzung des Video-Coaching geschaffen. Es folgten Schulungen im richtigen Umgang mit den Kameras, damit die darauffolgende Durchführung einer Mikroanalyse (kleinschrittige Analyse einer kurzen Filmsequenz mit Stopps bei gelungener Interaktion zwischen Betreuerinnen und Betreuten) möglich war. Ziel war es, über das Film- und Bildmaterial zu einer realistischen Selbstwahrnehmung der Mitarbeiterinnen zu gelangen, um somit zur Verbesserung der Betreuung der Bewohnerinnen beizutragen.
Seit 2017 nahm Frau Thomé (erneut) an den Fortbildungsmaßnahmen teil und seither fanden jährlich im Frühjahr und im Herbst weitere Fortbildungen in den verschiedenen Einrichtungen statt. Dabei wurde die begonnene Arbeit mit Herrn Heimbürger erfolgreich fortgesetzt. Ziel der Fortbildungen war und ist die Professionalisierung in der pädagogischen Arbeit für und mit Menschen mit Beeinträchtigung. Es wurden wichtige Erkenntnisse zur Bindungsforschung und zur Basiskommunikation vermittelt sowie die nachhaltig wirkende Technik der „Rückschau“. Die Betreuerinnen erlernen so, sich selbst und ihre gelungenen Interaktionen mit den Bewohnerinnen zu analysieren und somit ihre Arbeit zu verbessern. Zum Abschluss des Herbstseminars 2017 konnten drei Mitarbeiterinnen von Malko Scharkovo zum Video-Practitioner zertifiziert werden.
Seit 2017 fanden zudem jährlich zwei Erholungsurlaube für eine größere und wechselnde Gruppe von Bewohnerinnen in Begleitung ihrer Betreuerinnen am Schwarzen Meer statt. Diese Urlaube sind für die Frauen mit Behinderung ein Highlight. Sie können im Meer baden und am Pool entspannen. Neben zahlreichen Ausflügen wurde den Frauen durch Tanzeinheiten, Physiotherapien und Wassergymnastik ein abwechslungsreiches Programm geboten. Die Reise verbreitete nicht nur viel Freude, sondern gibt den Frauen vor allem das Gefühl, Teil der Gesellschaft zu sein und schenkt ihnen so ein Stück "normales" Leben.
Die erste Fortbildung 2018 begann mit einer gemeinsamen Inventarisierung aller Häuser, hinsichtlich ihrer baulichen Situation und Ausstattung in Malko Scharkovo. Ebenso wurden die Personalsituation und die Tagesstruktur der Bewohnerinnen analysiert. Jeder Kategorie wurde ein sog. Leuchtturm, als Merkmal für positive Gegebenheiten und ein sog. Brennpunkt, als Symbol für zu verändernde Gegebenheiten, zugeordnet. Diese Gliederung bildete die Grundlage für die thematische videobegleitende Weiterarbeit in Malko Scharkovo. Gezielt konnten vorrangige Interventionen herauskristallisiert werden. Sogar Bürgermeister nahm an einem Fortbildungsabschnitt teil und versicherte im Nachgang einen weiteren Anlauf zur Eröffnung der zweiten Außenwohngruppe aufzunehmen und beauftragte die Presse, eine Veröffentlichung zur ersten Video-Zertifizierung in Bulgarien vorzunehmen.
Im Rahmen der zweiten Fortbildung 2018 begann für die drei zertifizierten Mitarbeiterinnen die Fortsetzung der Ausbildung zum Video-Guide, als zweite Stufe der Ausbildung. Hinsichtlich der Bearbeitung der Inventarisierung konnten im baulichen Bereich einige Verbesserungen verzeichnet werden. Pädagogische Tages- und Gruppenpläne waren inzwischen für die meisten Gruppen entwickelt worden und es folgten weitere Filmsequenzen in der Betreuung von Bewohnerinnen mit besonders herausforderndem Verhalten. Außerdem lernten die Mitarbeiterinnen das Konzept, wie man Imitation und Variation zur Kommunikation sowohl des verbalen wie auch des nonverbalen Verhaltens gelangen kann, kennen. So kann ein geeigneter Kommunikationskanal zur Ansprache entwickelt werden.
Auch der Arbeitsschwerpunkt in der zweiten Fortbildung 2019 lag in Malko Scharkovo erneut auf der Beratung der Ergotherapeutinnen. Sie benötigten weiterhin Unterstützung im Umgang mit Bewohnerinnen mit besonders herausforderndem Verhalten bzw. mit besonders großem Unterstützungsbedarf. Es wurde die Entwicklung des „Neugierverhaltens“ und die „spezifischen Reaktionsmuster der Exploration“ vermittelt.
Seit 2015 fanden zudem regelmäßig Initiativ-Fortbildungen in Video-Coaching bei EGIDA, Pazardzhik in folgenden Bereichen der Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigung statt: Mutter-Kind- / Kindergruppe / Tagesstätte / Gruppe für Menschen mit Schwerstbehinderung.
Ein weitere Baustein der Vereinsarbeit ist die jährliche Reise des Vorstandsvorsitzenden des Vereins, Herrn Heidrich, die auch dazu genutzt wird, den Gesprächspartnern*innen auf der politischen Ebene Impulse zur Weiterentwicklung der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen in Bulgarien zu geben. So wurden jährliche Gespräche u. a. mit dem Sozialminister, dem*der Vorsitzenden des sozialpolitischen Ausschusses des bulgarischen Parlaments, der Nationalen Agentur für soziale Unterstützung auf Landes-, Bezirks- und Gemeindeebene, dem jeweils amtierenden Gouverneur, den Bürgermeistern*innen von Boljarovo, Straldja, Malenovo, Tundsha, dem Geschäftsführer der Caritas Sofia, Herrn Doumanov, dem Vorsitzenden der bulgarischen Bischofskonferenz, Bischof Proykov, der Partnerorganisation EGIDA in Pazardzhik und dem Deutschen Botschafter geführt.
Mit großem Bedauern konnten die bereits geplanten Durchführungen der Fortbildungen und die vorgesehenen Feierlichkeiten anlässlich des 20-jährigen Vereinsjubiläums im Jahr 2020 wegen der Corona-Pandemie nicht durchgeführt werden. Pandemiebedingt mussten alle Reisen und Veranstaltungen bis auf Weiteres vertagt werden. Dies war besonders bedauerlich, da in allen Bereichen gelungene Entwicklungen vorlagen und großes Interesse an der weiteren Fortbildungsarbeit bestand. Die anhaltende pandemische Lage führte ebenfalls dazu, dass die alljährlichen Erholungsurlaube der Frauen aus Malko Scharkovo ans Schwarze Meer verschoben werden mussten.
Die pandemische Lage hat jedoch die Relevanz der Online-Video-Konferenz-Technik bestärkt. Verstärktes Interesse an künftigen Coaching Maßnahmen in diesem Format von bulgarischer Seite, die auch über die Distanz wahrgenommen werden können, stellten einen kleinen Lichtblick dar. So sind für das 2. Halbjahr 2022 in Abhängigkeit der Pandemie-Entwicklung wieder erste Vor-Ort-Termine geplant. Auch die Impfquote der Frauen mit Behinderungen in den betroffenen Wohnheimen sei, insbesondere verglichen mit der niedrigen Impfquote in Bulgarien, sehr zufriedenstellend.